Belagerung von Sarajevo 1992-1996

Die Stadt ist der Kristallisationsort von Mythos und Logos, Ethnos und Demos, zivilisatorischer Entwicklung von Gesellschaften. So erweist sich in der Geschichte und heute, vom Rande Europas her, erneut die Zerstörung der Stadt als die Zerstörung des Gedächtnisses der Kultur, der Erinnerungen der Menschen, der zivilen Formen und Werte des Zusammenlebens.“[1]

 

Bis zum Kriegsausbruch im Frühjahr 1992 erlebte die bosnische Hauptstadt Sarajevo eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Metamorphose. Von einer Provinzstadt im osmanischen Vilayet, einem Verwaltungszentrum in der Habsburgermonarchie und als Hauptstadt der Sozialistischen Föderativen Republik Bosnien und Herzegowina (SRBiH) war Sarajevo zu einem urbanen, kosmopolitischen Herz des damaligen Jugoslawiens geworden. Nicht zuletzt waren die Olympischen Winterspiele im Jahr 1984, als die ganze Welt nach Sarajevo blickte, ein Zeichen für den modernen und interkulturellen Geist der Stadt. Weniger als ein Jahrzehnt danach, rückte Sarajevo wieder ins Zentrum der Weltöffentlichkeit. Diesmal allerdings, um einem vandalischen Akt der Menschheitsgeschichte Zeuge zu werden.

Analog dem Vandalismus an Kultur, Bücherverbrennungen und Bibliothekszerstörungen, die eine lange Geschichte und Tradition besitzen, lassen sich Stadtmorde und Städtezerstörungen ebenfalls in die lange Liste dieser Gewalttradition einreihen. Auch die Motive der Zerstörungen sind identisch. Von der Ära des Stadtstaates in der griechischen Polis bis ins 21. Jahrhundert hinein, gehören Stadtzerstörungen zum festen Merkmal kriegerischer Auseinandersetzungen. In seinem Werk über Architektur, Krieg und Erinnerung skizziert Robert Bevan die antiken Muster der Stadtzerstörungen und stellt fest, dass die Städte selbst oft das Ziel waren, weil sie „the locus of power, the economy and religious identification[2] seien. In seiner literarischen Auseinandersetzung über Städtezerstörungen und rituelles Städtemorden, hält der serbische Architekt und Essayist Bogdan Bogdanovic ebenfalls fest: „[…] seit es Welt und Ewigkeit gibt, werden Städte zerstört im Namen ‚fester Überzeugungen‘ und gemeißelter, höherer, höchster, strengster Moralnormen, im Namen von Glauben(s), -Klassen- und Rassenordnungen.“[3] Im Namen dieser Überzeugungen wurde Sarajevo, als einstiges Zentrum der multikulturellen, multiethnischen und multikonfessionellen Vielfalt in Bosnien-Herzegowina während der Stadtbelagerung zwischen April 1992 und Februar 1996 zum Schauplatz einer, durch täglichen Granatenbeschuss und Heckenschützen, barbarischen Terrorisierung der Stadtbevölkerung.

Die Belagerung begann am 5. April 1992, einen Tag vor der offiziellen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas durch die internationale Gemeinschaft. Dass sie noch vor dem offiziellen Kriegsbeginn längerfristig geplant und vorbereitet wurde, deutet lt. dem Historiker Holm Sundhaussen vieles darauf hin.[4]  Die verstärkte Präsenz der JNA rings um die Stadt, die Anlage von Schützenstellungen an den umliegenden Berghügeln, getarnt als Übungen, dass einige Serben nicht mehr am Arbeitsplatz erschienen sind oder die Stadt vor dem Kriegsbeginn verlassen, all dies seien als Anzeichen für eine Kriegsvorbereitung und Stadtbelagerung zu deuten.[5] Die von der serbischen Führung formulierten „sechs zentralen strategischen Ziele“,[6] die der Serbenführer Radovan Karadzic im Mai 1992 der Versammlung der „Republika Srpska“ offiziell vorstellte, stützen diese Annahmen. Daraus geht deutlich hervor, dass eine territoriale, institutionelle und vor allem, um es mit Robert Donias Worten auszudrücken „humane“[7] Aufteilung Bosnien – Herzegowinas die primären Ziele des großserbischen Projekts sind. Die Hauptstadt Sarajevo wurde unter dem „fünften Ziel“[8] definiert, das eine zentrale Rolle bei der Segregation des Landes einnehmen sollte.[9] Dieses Ziel sah, lt. Karadzic vor „division of the city of Sarajevo into Serbian and Muslim parts and implementation of an effective state government in each of these two constituent states.[10] Er führt weiterhin aus, dass die Kämpfe in und um Sarajevo taktisch und strategisch am wichtigsten seien, denn solange Sarajevo in serbischer Hand ist, könne Alija Izetbegovic, der bosnische Präsident, keinen funktionierenden Staat bilden.[11] Obwohl namentlich taktische und strategische Ziele formuliert wurden, werden hiermit die politischen und ideologischen Ziele der großserbischen Politik identifiziert; Im Namen des exklusiven Nationalismus die Aufteilung Bosnien und Herzegowinas, die Aufteilung der Stadt Sarajevo und die Errichtung eines ethnisch homogenen Territoriums als „Republika Srpska“.

Die Belagerung der Stadt dauerte 1425 Tage, am 29. Februar 1996 wurde sie für beendet erklärt. Während dieser Zeit wurden die Menschen in der Stadt von der Außenwelt abgeschnitten und nur durch die, von der NATO errichteten Luftbrücke und den im Jahr 1993 fertiggestellten Tunnel versorgt. In dieser ersten von drei Phasen der „ethnischen Säuberungen“ an Kulturgut, waren sowohl die Anwohner Sarajevos als auch die städtische Infrastruktur und das Kulturerbe einer systematischen Gewaltanwendung ausgeliefert. Neben Hunger und Kälte, wurden die Bürger täglichen Angriffen der Artillerie- und Panzerbeschuss ausgesetzt. Im Durchschnitt schlugen 329 Granaten in der Stadt ein, am 22. Juli 1993 wurden sogar 3777 Granateneinschläge gezählt.[12] Außerdem wurden die Bewohner kontinuierlich und machtlos den Heckenschützen ausgeliefert. Strom, Wasser und Gasversorgung wurde in der Stadt unterbrochen und die sämtliche Infrastruktur lahmgelegt. Die Rundfunkhäuser, zahlreiche öffentliche Gebäude sowie das Krankenhaus wurden zerstört. Einen unermesslich großen Schaden erlitt der historisch gewachsene, multikulturelle Stadtkern die Bascarsija.  In einem Mitteilungsblatt der Staatlichen Kommission für die Erfassung von Fakten zu Kriegsverbrechen vom Februar 1994 wird darauf explizit verwiesen. Hieraus wurde deutlich, dass die Angriffe nicht nur die militärischen Objekte der Gegenseite zum Ziel haben, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung, die Muslime und bosnische Kroaten, sowie gegen ihre religiösen und kulturellen Objekte gerichtet sind.[13]

Die Analyse der Kulturgutzerstörungen in Sarajevo lässt eine Auswahl der serbischen Ziele erkennen. Als Experte für die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICTY) recherchierte und publizierte András Riedlmayer, der Orientalist und Philologe von dem Aga-Khan Institut der Harvard University, zu Zerstörung des Kulturerbes in Bosnien und Herzegowina. Die Ergebnisse und Analyse seiner Recherchen und Publikationen[14] lassen eine genaue Auswahl der serbischen politischen und ideologischen Ziele erkennen. Der serbischen Führung ging es offenbar darum, jegliche Präsenz der katholischen Bosnier und Muslime in der Stadt auszulöschen. Zu diesem Zweck wurden gezielt und ohne jede militärische Notwendigkeit die historischen und religiösen Kulturstätten unter Beschuss genommen und vernichtet. Zahlreiche Moscheen und katholische Kirchen als religiöse Symbole der ethnischen Gruppen wurden zerstört. Das bedeutende Orientalische Institut in Sarajevo, mit seinen vollständigen Sammlungen, fiel im Mai 1992 einem gezielten Angriff zum Opfer. Unter den Verlusten befanden sich osmanische Provinzarchive und Katasterregister, die den Grundbesitz in Bosnien-Herzegowina am Ende der osmanischen Zeit dokumentieren, sowie weitere seltene islamische Handschriften. Viele der Handschriften waren einzigartig in ihrer Bedeutung und sind das Ergebnis von fast fünf Jahrhunderten bosnisch-muslimischer Kulturgeschichte. Diese Dokumente haben für die Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina identitätsstiftenden Charakter und sind für die Erforschung der traditionsreichen Geschichte des Landes unverzichtbar. Riedlmayer berichtet, dass lt. Aussagen von Augenzeugen das Orientalische Institut mit Brandbomben beschossen wurde, die von den Stellungen auf den Hügeln abgefeuert wurden. Andere Gebäude wurden dabei nicht getroffen. Demzufolge wurde das Orientalische Institut zielgerichtet ausgesucht und zerstört.[15] Auch weitere Archive und Bibliotheken in der Stadt, die in ihrer Bedeutung und Funktion als Konservatoren der kulturellen Identität, der Erinnerung, des Wissens und der Wahrheit, dieses kulturelle Erbe an die nächsten Generationen tradieren, wurden, um sich der Terminologie des, durch die Französische Revolution geprägten Begriffes vandalisme zu bedienen, barbarisch vernichtet.

Die Gewalt gegen die Kultur in Bosnien-Herzegowina und in Sarajevo, die letztendlich gegen die Menschen, die sie repräsentierte gerichtet war, hätte unter rechtezeitigem Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft gegen diese Gewalt möglicherweise vermieden werden können. Eine weitere Kontinuität zum Völkermord, wie dies in Srebrenica im Juli1995 geschah, wäre womöglich ausgeblieben. Um mit den Worten von Heinrich Heine abzuschließen: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“

 

[1] Bogdan Bogdanovic: Die Stadt und der Tod. Essays. Klagenfurt, Salzburg 1993.

[2] Bevan: Destruction of memory, S. 31.

[3] Bogdanovic: Die Stadt und der Tod, S. 35.

[4] Sundhausen: Sarajevo, S. 325-326.

[5] Ebd.

[6] Donia: Iz skupstine Republike Srpske, S. 52-55.

[7] Ebd.: S. 236.

[8] Ebd.: S.54-55.

[9]Vgl. dazu auch Robert J. Donia: Bosnian Serb Leadership and the Siege of Sarajevo, 1990-1995,In:URL:https://www.academia.edu/42714116/Bosnian_Serb_Leadership_and_the_Siege_of_Sarajevo, (aufg.15.01.2022).

[10] Donia: Iz skupstine Republike Srpske: S. 55.

[11] Ebd.

[12] Sundhaussen: Sarajevo, S. 326-327.

[13] Sundhaussen: Sarajevo, S. 326-328, Calic: Krieg und Frieden: 109-110.

[14] Siehe vollständiges Literaturverzeichnis.

[15] Riedlmayer: The Destruction of Cultural Heritage in Bosnia-Herzegovina, S. 161.

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