Während am 26. August 1992 in London die Friedenskonferenz über das ehemalige Jugoslawien die Gespräche zum Schutz der Menschenrechte aufnahm, ging in Sarajevo die historische Kulturstätte, die Vijećnica, die gleichzeitig die Funktion der National – und Universitätsbibliothek von Bosnien und Herzegowina innehatte, in Flammen auf. In der Nacht vom 25. auf den 26. August wurde sie durch einen gezielten Artilleriebeschuss, der von mehreren Stellungen der bosnisch-serbischen Armee (Vojska Republike Srpske) abgefeuert wurde, in Brand gesetzt. Etwa eine halbe Stunde nach Einbruch der Dunkelheit durchschlug ein Sperrfeuer von Brandgranaten das Dach und setzte die Bücherregale in Brand. Der stellvertretende Direktor der Bibliothek, Dr. Fahrudin Kalender beobachtete aus seiner Wohnung das Inferno, und sah, wie mehrfach Phosphorgranaten auf dem Dach landeten und Funken versprühten, bis das Gebäude in Flammen aufging. Ein wiederholter Beschuss fachte das Feuer immer weiter an. [1]

Das Bibliothekspersonal, die Feuerwehrleute und freiwillige Bürger, unter ihnen der noch im ehemaligen Jugoslawien bekannte Schauspieler Josip Pejaković, bildeten eine Menschenkette, um Bücher aus dem brennenden Gebäude zu retten und das Feuer unter Kontrolle zu bringen. Kurz vor dem Angriff war die Wasserversorgung in der Stadt von den Belagerern unterbrochen worden, sodass sie Wasser aus dem nahegelegenen Fluss Miljacka schöpfen mussten. Während dessen wurden sie ständigem Beschuss von Mörsergranaten und Heckenschützen ausgesetzt. Als die Flammen bei Morgengrauen zu erlöschen begannen, wurde der Beschuss auf das Gebäude erneut aufgenommen. Mehr als 40 Granaten wurden auf die Vijećnica / NUBBuH abgefeuert. Sie brannte drei Tage lang! Basierend auf eigener Feldforschung und in seiner Funktion als Experte für die Kriegsverbrecherprozesse am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag stellte András Riedlmayer unter anderem fest, dass die Vijećnica, bzw. die Nationalbibliothek gezielt unter Beschuss genommen wurde. Die anderen umliegenden Gebäude sind unversehrt geblieben. [2]

Von etwa drei Millionen Bänden verlor die Bibliothek fast 90 Prozent ihres Bestandes. Die zahlreichen Handschriften- und Raritätensammlungen, sowie bedeutende Archivalien und Manuskripte wurden zerstört. Auch ein Großteil der kartografischen, musischen und grafischen Sammlung fiel dem Brand zum Opfer. In ihrer Funktion als Universitätsbibliothek besaß sie auch eine Dissertationssammlung des ehemaligen Jugoslawiens, die ebenfalls in den Feuerflammen für immer vernichtet wurde. Drei Bibliotheksmitarbeiter befanden sich während des Beschusses im Gebäude, von denen eine, die Bibliothekarin Aida Buturović, getötet wurde.[3]

Dass die Vijećnica / NUBBuH kein Kollateralschaden war, sondern systematisch zerstört wurde, wie viele andere religiöse und kulturelle Objekte in Bosnien-Herzegowina und in der Stadt Sarajevo, zeigt sich in dem Umstand, dass die Belagerer einige Tage vor dem Beschuss die Wasserversorgung in der Stadt unterbrochen haben. Dieser Umstand wird mit der folgenden Aussage des bosnisch-serbischen Generals und verurteilten Kriegsverbrechers Ratko Mladić bekräftigt: „We should not say: we will destroy Sarajevo, we need Sarajevo. We are not going to say that we are going to destroy the power supply pylons or turn off the water supply, no, […] but gentlmen, please, fine, well, one day there is no water at all in Sarajevo. […] we have to wisely tell the world, it was they who were shooting […] they were shooting at the water supply facilities […] that is what diplomcy is.“ [4]

Diese Art von „diplomatischer“ Kriegsführung lässt sich auch aus den Äußerungen des Serbenführers Radovan Karadzić erkennen, als er in einem Interview auf die Frage, wer für die Bibliotheksbrandstiftung verantwortlich sei, die Verantwortung eindeutig den Muslimen zuweist, weil ihnen, wie er sagt, die österreich-ungarische Architektur nicht gefalle.[5]

Diese Manipulationstechniken mit kontinuierlicher Aussendung von Fehlinformationen bis hin zur Leugnung und Verdrehung von Tatsachen und Hassverbreitung waren in den Jugoslawienkriegen auf der Tagesordnung und reichen sogar bis in die Gegenwart hinein. Sie lassen sich in die lange Liste der eingesetzten Instrumentarien einordnen, mit denen die serbische Führung in Bosnien und Herzegowina im Rahmen der „ethnischen Säuberungen“ ihre ideologisch-strategischen Ziele umzusetzen versuchte. Obwohl die Frage des kulturellen Völkermordes und der Verantwortung für die Kriegsverbrechen am Kulturerbe und somit auch an der Vijećnica, bzw. der National- und Universitätsbibliothek in Sarajevo nicht weiter erörtert und hier ausgeklammert wird, erscheint es notwendig anhand dieser an Karadzic gerichteten „Schuldfrage“ zu zeigen, welche umfangreichen Methoden und Strategien zum Repertoire der bosnischen- serbischen Kriegsführung gehörten.

Unter dem Leitmotiv Was verlieren wir, wenn wir eine Bibliothek verlieren? wurde auf einer Konferenz der Universität Leuven im Jahr 2015, anlässlich des hundertsten Jahrestages der Zerstörung ihrer Bibliothek zu diesem Thema diskutiert. Thesen und Synthesen wurden aufgestellt, Bedeutungen formuliert und nach Antworten gesucht. Eine mögliche Antwort kann möglicherweise dem Aufsatz einer betroffenen Bibliothekarin in Sarajevo, Munevera Zećo entnommen werden, die ihre Erinnerungen an den schicksalhaften Tag der Zerstörung der Vijećnica / NBBuH so festgehalten hat: „By the morning of August 27 the library and its books, the great cultural and historical treasure of Bosnia and Herzegovina and its people, had vanished. On becoming aware of this new misfortune that befell the city, the inhabitants of Sarajevo, although already weakened by hunger and the personal tragedies that had befallen them, rushed to save the cultural heart of their city-their Vijecnica. […] The next day the sky was dark with smoke, while across the city, pages and small bits of burned books sailed through the air. Burning paper could be smelled throughout the city. Inhabitants of Sarajevo were in shock.“[6]

Es ist die Betroffenheit und die Bestürzung der Bürger über das Ausmaß dieses barbarischen Aktes. Mit der vorsätzlichen Zerstörung und dem Verlust der Bibliothek wird nicht nur das architektonische Gebäude in seiner Visualität beklagt. Vielmehr geht es um die Symbolik und die metaphorische Bedeutung, wofür diese Kulturstätte steht. Der Führung der bosnischen Serben ging es nicht darum, lediglich das Gebäude zu zerstören und nur visuell das Stadtbild zu verändern. Die Absichten, Ziele und Motivation für die systematische Destruktion greifen tiefer. Sie betreffen das menschliche Bewusstsein und die kollektiven Identitäten.

In Augenblick der Bibliothekszerstörung waren die Bürger von Bosnien und Herzegowina und die der Stadt Sarajevo gleich in doppelter Hinsicht ihres Erbes beraubt; Zum einen war die symbolträchtige Vijećnica, die durch die Habsburger Monarchie errichtet wurde, zum Wahrzeichen der Stadt geworden. Zum anderen verkörperte die darin beheimatete National- und Universitätsbibliothek den Beweis einer jahrhundertalten, traditionsreichen gemeinsamen Geschichte der bosnischen Christen und der Muslime. Beides formt und definiert die identitären Kollektive. Mit dem Verlust dieser beiden Zeugnisse wird die historische Kontinuität, die Geschichte und die multikulturelle Identität Bosniens zerstört und unterbrochen. Es droht die Gefahr des Verlustes einer kollektiven Erinnerung. 

Der moderne und kosmopolitische Geist von Sarajevo und die multikulturelle Vielfalt fügten sich nicht in die großserbischen Pläne und ihre Geschichtsdeutung ein und sollten zu Gunsten eines monoethnischen Territoriums und einer neuen Historiografie verändert werden. Der exklusive Nationalismus, der als Katalysator zum ideologisch und politisch motivierten Konflikten emporstieg, führte dazu, dass Bücher und die Nationalbibliothek zum Schlachtfeld wurden, auf dem kollektive Gedächtnis- und Identitätssysteme ausgetragen wurden und Geschichte neu definiert werden sollte.

 

 

Quellen:

  1. Riedlmayer J. András: Crimes of War, Crimes of Peace: Destruction of Libraries during and after the Balkan Wars of the 1990s. In: Library Trends 56 (2007), S. 107–132, hier S. 110.
  2. Riedlmayer J. András: The Destruction of Cultural Heritage in Bosnia-Herzegovina, 1992-1996. A Post-war Survey of Selected Municipalities. In: Forum Bosnae 46 (2008), S. 146-173, hier S. 162.
  3. Riedlmayer: Crimes of War, S. 112.
  4. Mladic, Ratko bei der 16. Versammlung der Republika Srpska vom 12. Mai 1992, In: Donia, J. Robert: Iz Skupstine Republike Srpske 1991-1996. Izvodi iz izlaganja poslanika Skupstine Republike Srpske kao dokazni materijal na Medjunarodnom Krivicnom Tribunalu u Hagu. Sarajevo, Tuzla 2012, S. 174-175.
  5. Karadzic, Radovan: Interview mit Global Perspectives am 2. September 1992, In: URL: http://heritage.sensecentar.org/assets/sarajevo-national-library/sg-3-04-karadzic-interview.pdf, (aufg.25.08.2022).
  6. Zećo, Munevera: The National and University Library of Bosnia and Herzegovina during the Current War. In: The Library Quarterly: Information, Community, Policy ,66 (1996), S 294-301, hier S. 297.

 

 

Die Stadt ist der Kristallisationsort von Mythos und Logos, Ethnos und Demos, zivilisatorischer Entwicklung von Gesellschaften. So erweist sich in der Geschichte und heute, vom Rande Europas her, erneut die Zerstörung der Stadt als die Zerstörung des Gedächtnisses der Kultur, der Erinnerungen der Menschen, der zivilen Formen und Werte des Zusammenlebens.“[1]

 

Bis zum Kriegsausbruch im Frühjahr 1992 erlebte die bosnische Hauptstadt Sarajevo eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Metamorphose. Von einer Provinzstadt im osmanischen Vilayet, einem Verwaltungszentrum in der Habsburgermonarchie und als Hauptstadt der Sozialistischen Föderativen Republik Bosnien und Herzegowina (SRBiH) war Sarajevo zu einem urbanen, kosmopolitischen Herz des damaligen Jugoslawiens geworden. Nicht zuletzt waren die Olympischen Winterspiele im Jahr 1984, als die ganze Welt nach Sarajevo blickte, ein Zeichen für den modernen und interkulturellen Geist der Stadt. Weniger als ein Jahrzehnt danach, rückte Sarajevo wieder ins Zentrum der Weltöffentlichkeit. Diesmal allerdings, um einem vandalischen Akt der Menschheitsgeschichte Zeuge zu werden.

Analog dem Vandalismus an Kultur, Bücherverbrennungen und Bibliothekszerstörungen, die eine lange Geschichte und Tradition besitzen, lassen sich Stadtmorde und Städtezerstörungen ebenfalls in die lange Liste dieser Gewalttradition einreihen. Auch die Motive der Zerstörungen sind identisch. Von der Ära des Stadtstaates in der griechischen Polis bis ins 21. Jahrhundert hinein, gehören Stadtzerstörungen zum festen Merkmal kriegerischer Auseinandersetzungen. In seinem Werk über Architektur, Krieg und Erinnerung skizziert Robert Bevan die antiken Muster der Stadtzerstörungen und stellt fest, dass die Städte selbst oft das Ziel waren, weil sie „the locus of power, the economy and religious identification[2] seien. In seiner literarischen Auseinandersetzung über Städtezerstörungen und rituelles Städtemorden, hält der serbische Architekt und Essayist Bogdan Bogdanovic ebenfalls fest: „[…] seit es Welt und Ewigkeit gibt, werden Städte zerstört im Namen ‚fester Überzeugungen‘ und gemeißelter, höherer, höchster, strengster Moralnormen, im Namen von Glauben(s), -Klassen- und Rassenordnungen.“[3] Im Namen dieser Überzeugungen wurde Sarajevo, als einstiges Zentrum der multikulturellen, multiethnischen und multikonfessionellen Vielfalt in Bosnien-Herzegowina während der Stadtbelagerung zwischen April 1992 und Februar 1996 zum Schauplatz einer, durch täglichen Granatenbeschuss und Heckenschützen, barbarischen Terrorisierung der Stadtbevölkerung.

Die Belagerung begann am 5. April 1992, einen Tag vor der offiziellen Anerkennung Bosnien-Herzegowinas durch die internationale Gemeinschaft. Dass sie noch vor dem offiziellen Kriegsbeginn längerfristig geplant und vorbereitet wurde, deutet lt. dem Historiker Holm Sundhaussen vieles darauf hin.[4]  Die verstärkte Präsenz der JNA rings um die Stadt, die Anlage von Schützenstellungen an den umliegenden Berghügeln, getarnt als Übungen, dass einige Serben nicht mehr am Arbeitsplatz erschienen sind oder die Stadt vor dem Kriegsbeginn verlassen, all dies seien als Anzeichen für eine Kriegsvorbereitung und Stadtbelagerung zu deuten.[5] Die von der serbischen Führung formulierten „sechs zentralen strategischen Ziele“,[6] die der Serbenführer Radovan Karadzic im Mai 1992 der Versammlung der „Republika Srpska“ offiziell vorstellte, stützen diese Annahmen. Daraus geht deutlich hervor, dass eine territoriale, institutionelle und vor allem, um es mit Robert Donias Worten auszudrücken „humane“[7] Aufteilung Bosnien – Herzegowinas die primären Ziele des großserbischen Projekts sind. Die Hauptstadt Sarajevo wurde unter dem „fünften Ziel“[8] definiert, das eine zentrale Rolle bei der Segregation des Landes einnehmen sollte.[9] Dieses Ziel sah, lt. Karadzic vor „division of the city of Sarajevo into Serbian and Muslim parts and implementation of an effective state government in each of these two constituent states.[10] Er führt weiterhin aus, dass die Kämpfe in und um Sarajevo taktisch und strategisch am wichtigsten seien, denn solange Sarajevo in serbischer Hand ist, könne Alija Izetbegovic, der bosnische Präsident, keinen funktionierenden Staat bilden.[11] Obwohl namentlich taktische und strategische Ziele formuliert wurden, werden hiermit die politischen und ideologischen Ziele der großserbischen Politik identifiziert; Im Namen des exklusiven Nationalismus die Aufteilung Bosnien und Herzegowinas, die Aufteilung der Stadt Sarajevo und die Errichtung eines ethnisch homogenen Territoriums als „Republika Srpska“.

Die Belagerung der Stadt dauerte 1425 Tage, am 29. Februar 1996 wurde sie für beendet erklärt. Während dieser Zeit wurden die Menschen in der Stadt von der Außenwelt abgeschnitten und nur durch die, von der NATO errichteten Luftbrücke und den im Jahr 1993 fertiggestellten Tunnel versorgt. In dieser ersten von drei Phasen der „ethnischen Säuberungen“ an Kulturgut, waren sowohl die Anwohner Sarajevos als auch die städtische Infrastruktur und das Kulturerbe einer systematischen Gewaltanwendung ausgeliefert. Neben Hunger und Kälte, wurden die Bürger täglichen Angriffen der Artillerie- und Panzerbeschuss ausgesetzt. Im Durchschnitt schlugen 329 Granaten in der Stadt ein, am 22. Juli 1993 wurden sogar 3777 Granateneinschläge gezählt.[12] Außerdem wurden die Bewohner kontinuierlich und machtlos den Heckenschützen ausgeliefert. Strom, Wasser und Gasversorgung wurde in der Stadt unterbrochen und die sämtliche Infrastruktur lahmgelegt. Die Rundfunkhäuser, zahlreiche öffentliche Gebäude sowie das Krankenhaus wurden zerstört. Einen unermesslich großen Schaden erlitt der historisch gewachsene, multikulturelle Stadtkern die Bascarsija.  In einem Mitteilungsblatt der Staatlichen Kommission für die Erfassung von Fakten zu Kriegsverbrechen vom Februar 1994 wird darauf explizit verwiesen. Hieraus wurde deutlich, dass die Angriffe nicht nur die militärischen Objekte der Gegenseite zum Ziel haben, sondern auch gegen die Zivilbevölkerung, die Muslime und bosnische Kroaten, sowie gegen ihre religiösen und kulturellen Objekte gerichtet sind.[13]

Die Analyse der Kulturgutzerstörungen in Sarajevo lässt eine Auswahl der serbischen Ziele erkennen. Als Experte für die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag (ICTY) recherchierte und publizierte András Riedlmayer, der Orientalist und Philologe von dem Aga-Khan Institut der Harvard University, zu Zerstörung des Kulturerbes in Bosnien und Herzegowina. Die Ergebnisse und Analyse seiner Recherchen und Publikationen[14] lassen eine genaue Auswahl der serbischen politischen und ideologischen Ziele erkennen. Der serbischen Führung ging es offenbar darum, jegliche Präsenz der katholischen Bosnier und Muslime in der Stadt auszulöschen. Zu diesem Zweck wurden gezielt und ohne jede militärische Notwendigkeit die historischen und religiösen Kulturstätten unter Beschuss genommen und vernichtet. Zahlreiche Moscheen und katholische Kirchen als religiöse Symbole der ethnischen Gruppen wurden zerstört. Das bedeutende Orientalische Institut in Sarajevo, mit seinen vollständigen Sammlungen, fiel im Mai 1992 einem gezielten Angriff zum Opfer. Unter den Verlusten befanden sich osmanische Provinzarchive und Katasterregister, die den Grundbesitz in Bosnien-Herzegowina am Ende der osmanischen Zeit dokumentieren, sowie weitere seltene islamische Handschriften. Viele der Handschriften waren einzigartig in ihrer Bedeutung und sind das Ergebnis von fast fünf Jahrhunderten bosnisch-muslimischer Kulturgeschichte. Diese Dokumente haben für die Bevölkerung von Bosnien-Herzegowina identitätsstiftenden Charakter und sind für die Erforschung der traditionsreichen Geschichte des Landes unverzichtbar. Riedlmayer berichtet, dass lt. Aussagen von Augenzeugen das Orientalische Institut mit Brandbomben beschossen wurde, die von den Stellungen auf den Hügeln abgefeuert wurden. Andere Gebäude wurden dabei nicht getroffen. Demzufolge wurde das Orientalische Institut zielgerichtet ausgesucht und zerstört.[15] Auch weitere Archive und Bibliotheken in der Stadt, die in ihrer Bedeutung und Funktion als Konservatoren der kulturellen Identität, der Erinnerung, des Wissens und der Wahrheit, dieses kulturelle Erbe an die nächsten Generationen tradieren, wurden, um sich der Terminologie des, durch die Französische Revolution geprägten Begriffes vandalisme zu bedienen, barbarisch vernichtet.

Die Gewalt gegen die Kultur in Bosnien-Herzegowina und in Sarajevo, die letztendlich gegen die Menschen, die sie repräsentierte gerichtet war, hätte unter rechtezeitigem Eingreifen der internationalen Staatengemeinschaft gegen diese Gewalt möglicherweise vermieden werden können. Eine weitere Kontinuität zum Völkermord, wie dies in Srebrenica im Juli1995 geschah, wäre womöglich ausgeblieben. Um mit den Worten von Heinrich Heine abzuschließen: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“

 

[1] Bogdan Bogdanovic: Die Stadt und der Tod. Essays. Klagenfurt, Salzburg 1993.

[2] Bevan: Destruction of memory, S. 31.

[3] Bogdanovic: Die Stadt und der Tod, S. 35.

[4] Sundhausen: Sarajevo, S. 325-326.

[5] Ebd.

[6] Donia: Iz skupstine Republike Srpske, S. 52-55.

[7] Ebd.: S. 236.

[8] Ebd.: S.54-55.

[9]Vgl. dazu auch Robert J. Donia: Bosnian Serb Leadership and the Siege of Sarajevo, 1990-1995,In:URL:https://www.academia.edu/42714116/Bosnian_Serb_Leadership_and_the_Siege_of_Sarajevo, (aufg.15.01.2022).

[10] Donia: Iz skupstine Republike Srpske: S. 55.

[11] Ebd.

[12] Sundhaussen: Sarajevo, S. 326-327.

[13] Sundhaussen: Sarajevo, S. 326-328, Calic: Krieg und Frieden: 109-110.

[14] Siehe vollständiges Literaturverzeichnis.

[15] Riedlmayer: The Destruction of Cultural Heritage in Bosnia-Herzegovina, S. 161.

„Der schlanke steinerne Schatten, die Replik des himmlischen Regenbogens, Meisterwerk des Baumeisters Hajrudin, eine der schönsten und edelsten architektonischen Allegorien, ist dahingegangen auf den Grund des Flusses. Der Stadt, geboren im Zeichen der Brücke, entrissen wurde ihr erstes und letztes Wort, und ihr Tod ist, so fürchte ich, unwiderruflich.“[1] Ähnlich wie Bogdanovic empfand auch der kroatische Franziskaner – Pater Daniel, als er sagte „Der Tag, an dem die alte Brücke zerstört wurde, war der Todestag unserer Stadt. […] Als sie fiel, war das Herz der Stadt Mostar zerstört.“[2]

Bevor nach den identitätsstiftenden Strukturen gesucht wird, die als Konsequenz aus der Brückenzerstörung herausgegangen sind, soll zunächst die Unterscheidung zwischen der Zerstörung und dem Tod einer Stadt geklärt werden. Der Historiker Bogdanovic, als er nach der Unterscheidung gefragt wurde, fasst dies wie folgt zusammen: „[…] Eine Stadt die ‚nur‘ zerstört ist, also nur niedergelegt ist, wird sich irgendwie wieder sammeln. Sie wird, dermaleinst, ihre physischen und gei­stigen Konturen wiederfinden; […] Aber- fügte ich zögernd hinzu, es muss eine Grenze der Zerstörung geben […].“[3]

Die Alte Brücke in Mostar lässt sich zweifelsohne als das Herzstück der Stadt ansehen. Ursprünglich nur aus strategischen Gründen gebaut, verband sie fast fünf Jahrhunderte Flussufer der Neretva und galt als Symbol für die multikulturelle Gesellschaft von Mostar und Bosnien und Herzegowina. Ihre Bedeutung zeigt sich auch im Namen, den sie der Stadt gab, sowie in der Mythen- und Legendenbildung, mit denen sie umgeben und verwachsen ist. Während Europa am Anfang der 90-er Jahre sich annäherte und die Berliner Mauer als Trennwand zwischen West – und Ostdeutschland am 9. November 1989 ‚fiel‘, ‚fiel‘ die Alte Brücke am 9. November 1993 in Mostar und symbolisierte die Trennung der Stadt und den Kulturen.[4] Mit der Zerstörung der Brücke wurden nicht nur die Stadt und die Menschen getrennt, es kam auch zur Spaltung der Identitäten. Der Angriff auf die Brücke wurde von den bosnischen Muslimen als Angriff auf die bosnische Kultur und Tradition angesehen.[5] Diese Diskussion wurde aufgeworfen, nachdem die Kroatische HVO die Brücke bombardierte, während sie für die Serben offensichtlich kein exklusives muslimisches Identifikationsmerkmal war. Es ist noch unklar, ob die HVO die Brücke zerstörte, weil sie mit ihr die muslimische Identität verbindet.[6] Fest steht allerdings, dass die Zerstörung der Brücke die multikulturelle Gesellschaft in Mostar entzweite, und neue Identitätsmustern konstruierte. Orthodoxe Serben leben kaum noch in Mostar, und bosnische Kroaten und Muslime teilen sich die Stadt. Durch diesen Akt der Zerstörung, wurden Mostar und die Bürger in zweifacher Hinsicht verändert. Zum einen, verlor die Stadt ihr Wahrzeichen. In ihrer visuellen und geografischen Form, war die Brücke nicht mehr vorhanden. Zum anderen, verlor sie die Verschmelzung ihrer Bürger und die Multikulturalität, wofür sie in der Region repräsentativ stand. Die metaphorische Bedeutung der Brücke als Verbindung von Menschen und Kulturen, aber auch als mögliche Trennung darzustellen derselben, lässt sich hierbei gut veranschaulichen. Wo ursprünglich eine Verbindung existierte, wurde in der Wahrnehmung der Bürger zur Trennwand.  Daraus sind neue Identitätsmuster entstanden, aus einem „wir“, wurde „wir und die anderen“. Diese territoriale und metaphorische Trennung der Stadt, veränderte das individuelle Gedächtnis und trägt zur Bildung einer neuen kollektiven Erinnerung bei. Diese neue Identitätskonstruktion schuf einen zweiten Erinnerungsort. Einen Erinnerungsort der Sieger und Verlieren, der Täter und Opfer.  Auch wenn sie unterschiedliche Sichtweisen vertreten und auf unterschiedlichen Seiten des Flusses leben[7], in ihrer Leidensgeschichte sind die Bürger von Mostar verbunden. Unabhängig von der Ethnie oder Religion, gilt es an ein Verbrechen zu erinnern, dieses zu verarbeiten und in der Geschichte einzuordnen. Die Bedeutung der Brückenmethapher innerhalb der Erinnerungskultur diskutiert die amerikanische Historikerin Emily Gunzburger – Makas.[8] Einerseits bedarf es nicht der Visualisierung eines Objektes, denn seine methaphorische Bedeutung hält die Erinnerung am Leben.  Andererseits erleichtert die physische Wahrnehmung des Objekts den Erinnerungsprozess und schützt vor dem Vergessen. Die Gefahr war zu groß, dass die Vielfalt der bosnischen Gesellschaft, wofür auch Mostar und die Alte Brücke standen, in Vergessenheit geriet, deshalb war die Rekonstruktion der Brücke wichtig.[9] Die methaphorische Bedeutung der Alten Brücke war nach ihrem Zerstören zu groß, um die Stadt als „tot“ zu bezeichnen. Auch nachdem sie physisch nicht mehr vorhanden war, die Erinnerung an sie und ihre durch Jahrzehnte tradierte Geschichte war lebendig. Die Gesellschaft von Mostar ist zwar geografisch getrennt und religiös entzweit, aber in der Erinnerung an die Zeit vor dem Krieg und die Zerstörung ist sie verbunden. An diesem Punkt ließe sich die Unterscheidung zwischen „Zerstörung“ und „Tod“ der Stadt festmachen und eine Grenze ziehen. Der historische Stadtkern und die Alte Brücke wurden physisch zerstört, aber die kollektive Erinnerung der Gesellschaft, die durch die individuellen Erfahrungen eines jeden Mostarer, unabhängig von der Ethnie oder Religion geprägt ist, war ihre Rettung. Die Gewichtung der Erinnerungskultur an die Alte Brücke unterstreichen auch die Worte des damaligen Bürgermeisters und  Hauptverantwortlichen für ihren Wiederaufbau, Safet Orucevic, der sagte: „[…] It will symbolize the union of a people and [the] indestructibility of the idea of a shared life between different cultures, peoples and religions.“[10] In dieser metaphorischen Bedeutung spiegelt sich das multikulturelle Identitätsbewusstsein der Gesellschaft von Mostar und der Region wieder, das jegliche Grenzen und Zerstörung zu überbrücken vermag.

[1] Bogdan Bogdanovic: Architektur der Erinnerungen. Klagenfurt, Salzburg 1994. S. 139.

[2] Hans Koschnick, Jens Schneider: Brücke über die Neretva. Der Wiederaufbau von Mostar. November 1995. S. 8-9.

[3] Bogdanovic: Architektur, S. 138.

[4] Zit. nach Emily Gunzburger: Representing Multinational Bosnian Identity:The Bridge Metaphor and Mostar’s Stari Most. Paper presented at the conference

Con/De/Recon-struction of South Slavic Architecture

 History of Architecture and Urbanism Program, Cornell University,March 2001, URL:www.academia.edu/2211315/Bridge_Metaphor_and_Mostars_Stari_Most_Cornell_U_Ithaca_2001, S. 13,  (aufg.am 10.12.2019).

[5] Emily Gunzburger: Mostar’s Stari Most, URL: https://www.academia.edu/2211315/Bridge_Metaphor_and_Mostars_Stari_Most_Cornell_U_Ithaca_2001_, S. 13,  (aufg. Am 10.12.2019).

[6] Emily Gunzburger: Mostar’s Stari Most, URL: https://www.academia.edu/2211315/Bridge_Metaphor_and_Mostars_Stari_Most_Cornell_U_Ithaca_2001, S. 14,  (aufg.am 10.12.2019).

[7] Auch heute noch leben verstärkt die bosnischen Muslime im Ostteil und die bosnischen Kroaten im Westteil der Stadt Mostar

[8] Emily Gunzburger: Mostar’s Stari Most, URL: https://www.academia.edu/2211315/Bridge_Metaphor_and_Mostars_Stari_Most_Cornell_U_Ithaca_2001, S.17-18. (aufg.11.12.2019).

[9] Emily Gunzburger: Mostar’s Stari Most, URL: https://www.academia.edu/2211315/Bridge_Metaphor_and_Mostars_Stari_Most_Cornell_U_Ithaca_2001, S.17-18. (aufg.11.12.2019).

[10] Zit. nach Emily Gunzburburger: Mostar’s Stari Most, URL: https://www.academia.edu/2211315/Bridge_Metaphor_and_Mostars_Stari_Most_Cornell_U_Ithaca_2001, S. 21, (aufg.am 11.12.2019)

Mostar ist eine Stadt der Literaten, wie z.B. Jovan Ducic, Svetozar Corovic oder Hamza Humo, um hier nur ein paar bedeutende Dichterpersönlichkeiten zu nennen. Keiner aber hat die literarische Kulturlandschaft der Stadt Mostar so sehr geprägt wie der Dichter, Publizist und Schriftsteller Aleksa Santic. Santic wurde im Jahr 1868 in Mostar als Sohn einer reichen bosnisch – orthodoxen Kaufmannsfamilie geboren. In Ljubljana und Triest besuchte er die Handelsschule, ansonsten verbrachte er die meiste Zeit in seiner Heimatstadt Mostar. Als Vorstandspräsident war er in dem serbischen Musikverein Gusle in Mostar aktiv. Um das kulturelle Leben der Stadt zu verbessern, gründete er 1896 mit seinem Schriftstellerkollegen Svetozar Corovic das Kulturmagazin Zora. Santic war ein sehr erfolgreicher Schriftsteller und Dichter. Insgesamt schrieb er 715 Gedichte, sieben Theaterstücke und einige Prosastücke. Die wichtigsten sind zu nennen Ostajte ovdje (1896), Emina (1903), Hljeb (1906), Moja otadzbina (1908), aber auch viele andere. Er wurde stark von dem serbischen Dichter Jovan Jovanovic Zmaj, sowie Heinrich Heine, dessen Werke er übersetzte, geprägt.[1] Santic ist 1924 an einer Tuberkuloseerkrankung gestorben. Sein Grab befindet sich in Mostar, wo auch zu seinen Ehren im Stadt­zentrum ein Denkmal aufgestellt ist.
Am Berliner Kongress wurde Bosnien und Herzegowina offiziell unter die Ver­waltung der Habsburger Monarchie gestellt. Santics Wirken war gerade in der Zeit, als sich Bosnien und Herzegowina politisch und kulturell zu dieser Zeit im Um­bruch befand. Dies äußerte sich auch in seinen Werken. Viele seiner Schriften be­handelten die Themen aus dem sozialen und kulturellen Bereich und wurden von Heimatliebe und einem starken nationalen Gefühl begleitet. Seine Liebeslyrik sprühte jedoch von dem orientalischen Geist der Stadt und dem Leben muslimischer Frauen. So ist beispielsweise das Liebeslied Emina entstanden, in dem er seine hoffnungslose Liebe zu der Tochter eines Mostarer-Imam beschreibt. Das Gedicht wurde sehr bald als Volkslied in die bosnische Sevdalinka, als eine traditionelle Musikrichtung in Bosnien eingebettet, und wurde über Generationen weiter­ge­geben. Als Ausdruck kultureller Prägung, wird es heute immer noch von vielen Künstlern in verschiedenen Musikrichtungen interpretiert.

Stay here!… The sun that shines in a foreign place,
Will never warm you like the sun in your own;
The bread has a bitter taste there
Where one has no one, not even a brother.

Who would find a better mother than one’s own,
And your mother is this country;
Take a look upon the limestones and the field,
Everywhere are the graveyards of your great-grandfathers.

For this country they were noble giants,
Lights who knew how to defend it,
You, too, should stay in this country,
And give the fund of your blood for it.

As a deserted bough, when the autumn winds
Tear its leaves and slash it with ice;
Your motherland would be without you,
Like a mother crying for her child.

Do not let tears run down her face,
Return to it in the world’s embrace;
Live in order to be able to die
On its battlefield where glory comes to greet you!

Everybody knows and loves you here,
And nobody will recognize you there;
Even the barren limestones are better here
Than the flowers in the fields of a foreign place.

Everybody shakes your fraternal hand here –
In the foreign land, wormwood blooms for you;
For us, amongst the limestones, everything connects:
Name, language, brotherhood, and holy blood.

Stay here!… The sun that shines in a foreign place
Will never warm you like the sun in your own –
[2]

Das Gedicht  Ostajte ovdje- (Stay here) wurde  auf dem Titelblatt der ersten Aus­gabe der Zeitschrift Zora am 30.4. 1896 in Mostar abgedruckt und ver­öffent­licht[3], und wurde in serbokroatischer Sprache und kyrillischer Schrift verfasst. Es ist ein literarisch emotionaler Aufruf an seine Mitbürger, das eigene Heim und Herd nicht zu verlassen und in der Heimat zu bleiben. Das Gedicht wurde in Santics Anthologie aufgenommen, und sowohl in kyrillischer als auch lateinischer Schrift publiziert. Die vorliegende englischsprachige Übersetzung stammt aus dem Jahr 2006, aus der zweisprachigen Literaturzeitschrift Spirit of Bosnia, die von der Wittenberg Universität in den USA herausgegeben wird.[4]

Trotz seiner literarischen Größe, werden seine Werke im Hinblick auf seine nationale Agenda seit dem Jugoslawienzerfall einer Kritik unterzogen. Das Gedicht Stay here, dass 1896 veröffentlich wurde, muss im Zusammenhang der politischen Situation in Bosnien und Herzegowina verstanden werden. Der kulturelle Umbruch nach der Ankunft der Habsburgermonarchie stoß bei den in Mostar, seit Generationen lebenden Muslimen auf Unbehagen und Misstrauen auf. In unterschiedlichen zeitlichen Wellen folgte eine massenhafte Auswanderung der Muslime in die Gebiete des Osmanischen Reiches. Zudem war zu diesem Zeitpunkt die Welle der Nationalstaatsbewegung aus Europa auch zu den Balkanländern übergelaufen, woraus eine illyrische Bewegung entstand. Diese hatte die Vereinigung aller südslawischen Völker zum Ziel, ent­wickelte sich jedoch später in zwei unterschiedliche Strömungen, den Jugoslawismus und Kroatismus.
Zu seinem Gedicht schrieb Vera Javarek 1958, Santic habe in ehrlichem Mitgefühl über seine Mitbürger und deren unglückliches Schicksal unter der Regierung von Österreich – Ungarn, geschrieben.[5] Vasa Mihailovic schreibt 1988, Santic habe dieses Gedicht den bosnischen Muslimen, die nach der österreichischen Annexion massenhaft in die Türkei ausgewandert sind, gewidmet.[6] Der Aufsatz von Nihad Dostovic[7] diskutiert Santics Werk und seine Person im Kontext der nationalen und kulturellen Ausprägung auf dem Balkan, am Anfang des 19. Jahrhunderts. Nach Dostovic, drücke Santic in dem Gedicht keinen Ausdruck von Solidarität mit den Muslimen aus. Ebenso sei darin kein Aufruf zu ihrer Eingliederung in die serbische nationale Körperschaft, die zu dieser Zeit in Mostar stark ausgeprägt war, zu sehen. Er ist der Ansicht, dass für Santic die bosnischen Muslime irgendwann bosnische Serben gewesen seien, und er diese Abwanderung auf einer nationalen Ebene sähe. Die andere Option, die von Muslimen und Kroaten in Bosnien und Herzegowina, die sich mit Santics nationalen Agenda nicht identifizieren können, angenommen wird, er sei gegenüber sozial-schwachen Menschen sensibel gewesen.[8]
Ein weiteres Bild zu Santic, jedoch nicht zum Gedicht sondern zu seiner Person gibt Milos Crnjanski in einem Essey über das Bildniss des Aleksa Santic[S.M.][9], der im Jahr 1923 geschrieben wurde. Der Essey wurde im Jahr 1924 publiziert und später in den Sammelwerken von Milos Crnjanski im Jahr 1966 in Beograd ver­öffentlicht. Milos Crnjanski (1893-1977) war ein bedeutender serbischer Dichter und Schriftsteller, der zum Zeitpunkt seiner regelmäßigen Begegnung mit Santic in Mostar beim Militär stationiert war. Crnjanski schreibt, sie haben sich oft an der Neretva getroffen. Er wäre immer in schwarz angezogen, sei ziemlich still gewesen und würde nicht viel über Literatur sprechen. Er unterhielt sich gern über Reisen und die weite Welt, und habe die Schönheit des Lebens im Makrokosmos ge­sehen.[10] Insgesamt skizziert er ein sehr feines und würdevolles Abbild von ihm, deren ein melancholisches Dasein von einer unglücklichen und unerfüllten Liebe definiert wird. Crnjanski schreibt weiter,  manchmal habe er den Eindruck, dass Mostar ihm (Aleksa Santic) auf der Brust liege[…] und würde jeden Abend das gleiche Abbild vom Mondschein, dem blauen Gebirge und der türkischen Gräber sehen.[11]Von der Krankheit gezeichnet, wüsste er, dass er bald sterben würde,  und eines Abends, mit dem Blick in den Himmel, habe er ihm die 114 Sure aus dem Kur’an zitiert: „Ich suche nach einem Versteck…einem Versteck vor Bläsern und Verrätern, die in die Menschenbrust hineinblasen, einem Versteck vor dem Satan  und den Menschen“[12][S.M.]. Wenn man die Beschreibung Crnjanskis über die Person von Aleksa Santic in den Zusammenhang der Gedichtanalyse von Stay here setzt, lässt sich feststellen, dass daraus kein überhöhtes Nationalgefühl zu entnehmen ist. Es fällt vielmehr eine Verwachsung mit der Stadt auf, und eine tiefe Enttäuschung des Dichters, die womöglich auf seine unglückliche Liebe und das politische Klima nach den Kriegen am Anfang des 20. Jahrhunderts zurückzuführen ist. In diesem Zusammenhang muss beachtet werden, dass zwischen der Gedichts- und der Esseyveröffentlichung fasst dreißig Jahre auseinander liegen. Selbst wenn Aleksa Santic eine ausgeprägte serbische Identität besaß, war sie nicht exklusiv, sie schloss die anderen Religionen in Bosnien und Herzegowina nicht aus. Diese Argumentation ließe sich mit der Idee des Jugoslawismus begründen, die, unabhängig der Religion, die Verschmelzung aller slawischen Nationen zum Ziel hatte. Auch die Tatsache, dass das Gedicht in betont serbischem Dialekt und auf Kyrillisch verfasst und veröffentlicht wurde, lässt kein ausgeprägtes nationales Identitätsmerkmal feststellen. Vierzig Jahre davor, im Jahr 1850 wurde in Wien durch Vuk Stefanovic Karadzic eine ge­mein­same serbokroatische Sprache mit beiden Schriften, Kyrillisch und Latein, kodi­fiziert, sodass in Bosnien und Herzegowina beide Schriften verwendet wurden.[13]Santic gelang es mit seinen Werken alle Nationalitäten zu erreichen. Seine Poesie war universell und den Menschen seiner Stadt gewidmet. Es lässt sich mit Sicherheit festhalten, dass er einer der größten Dichter des ehemaligen Jugoslawiens war. Obwohl die postjugoslawischen Republiken seit den 1990-er Jahren ihre nationale Unabhängigkeit besitzen, werden Santics Werke immer noch rezipiert und wurden nicht aus den Lehrplänen und Sammelwerken der jeweiligen Länder gestrichen.[14]


[1] Nihad Dostovic: Aleksa Santic: Stay here. In: Ahmet Ersoy, Maciej Górny , Vangelis Kechriotis (Hrsg.):  Modernism. The Creation of Nation-States.Budapest, New York 2010. S. 94-98.
[2] Literaturzeitschrift Spirit of Bosnia, URL: http://www.spiritofbosnia.org/about-spirit-of-bosnia/, (aufg.am 15.12.2019).
[3] Erste Ausgabe d. Zeitschrift Zora, URL: http://www.cidom.org/wp-content/uploads/2018/06/Časopis-Zora-1896.pdf (aufg.am 15.12.2019).
[4] Literaturzeitschrift Spirit of Bosnia, URL: http://www.spiritofbosnia.org/about-spirit-of-bosnia/, (aufg.am 15.12.2019).
[5]Zit. nach URL: http://www.spiritofbosnia.org/volume-1-no-4-2006-october/stay-here/, Zitat Vera Javarek 1958, (aufg.am 13.12.2019).
[6] Zit. nach URL: http://www.spiritofbosnia.org/volume-1-no-4-2006-october/stay-here/, Zitat Vasa Mihailovic 1988 (aufg.am 13.12.2019).
[7] Dostovic: Aleksa Santic, S. 94-98.
[8] Dostojevic: Aleksa Santic, S. 96-97.
[9] Milos Crnjanski: Slika Alekse Santica. In: Hamica Ramic (Hrsg.): Mostar. Moj grad. Sarajevo, Mostar 2016. S. 125-130.
[10] Crnjanski: Aleksa Santic, S. 128.
[11] Ebd., S. 129.
[12] Ebd., S. 130.
[13] Alojz Ivanisevic: Getrennt durch die „gemeinsame Sprache“. Sprache als Politikum in kroatisch-serbischen Beziehungen und Konflikten vor der Entstehung Jugoslawiens. In: Marija Wakounig, Wolfgang Müller, Michael Portmann (Hrsg.): Nation, Nationalitäten und Nationalismus im östlichen Europa. Festschrift für Arnold Suppan zum 65. Geburtstag. Wien 2010. S. 307-330, hier S. 309-310.
[14] Dostovic: Aleksa Santic, S. 97.